Er ist der alljährliche Star der Chrysanthema: der Ozukuri. So heißt der in edlem weiß erstrahlende Chrysanthemenbusch, der im japanischen Bereich am Urteilsplatz die Besucher anlockt. 255 kunstvoll in ein Metallgestell eingeflochtene Blüten bilden ein prächtiges Objekt fernöstlicher Handwerkskunst.
Und ein seltenes dazu. Denn der Ozukuri, alljährlich auf der Chrysanthema zu bestaunen, ist einzigartig in Europa, was in erster Linie an der gewaltigen Arbeit liegt, die dieses Kunstwerk bereitet.
Rainer Leppert, Ex-Gärtner im Bau und Gartenbaubetrieb Lahr (BGL) und Richard Sottru, ehemals langjähriger Abteilungsleiter, beide mittlerweile in Rente, sitzen gemeinsam fünf Tage lang an der Pflanze, bis alle Blüten händisch mit speziellen Pflanzenbindern in einem eigens konstruierten Gestell befestigt sind.
Gesehen hatte Rainer Leppert das Kunstwerk erstmals beim Besuch in Kasama, der mit Lahr befreundeten Stadt unweit von Tokio, und im kaiserlichen Garten in Tokio und war sofort fasziniert. Mit etwas Überredungskunst gelang es ihm mit Hilfe einer Dolmetscherin, dem zuständigen Gärtner einen etwa zehn Zentimeter großen Steckling der kaiserlichen Pflanze abzuringen, welchen er im Hotelzimmer – in Papierhandtücher eingewickelt – in der Badewanne zwischenlagerte, wo er das Objekt der Begierde mit Hilfe der Dusche feucht halten konnte.
Doch er hatte nicht mit dem Ordnungssinn der Dame von Zimmerservice gerechnet, die den wertvollen Ableger nach dem Motto „Ist das Kunst oder kann das weg?“ kurzerhand entsorgte – zum Glück im Papierkorb in Lepperts Zimmer, wo er das Exponat vor seinem tragischen Ende retten konnte.
Zurück in Lahr übergab er das fragile Pflänzchen einem schweizerischen Gärtner und Chrysanthemenexperte, der in den Folgetagen zu Gast war und das Knowhow hatte, um den Steckling zu bewurzeln. Dies war die Geburtsstunde des Lahrer Ozukuri.
18 Monate dauert die Kultur der Pflanze, das heißt, die Chrysantheme, die die Besucher im Jahr 2025 am Urteilsplatz begeistern wird, wird beim BGL bereits auf ihren feierlichen Auftritt vorbereitet. Drei Pflanzen gedeihen dort, die Schönste wird am Ende die Auserwählte sein.
Mit Verdunkelung und einer Menge Fachwissen wird erreicht, dass die Pflanze nicht in ihren jährlichen Zyklus verfällt und im Herbst blüht, ehe sie abstirbt, sondern weiterwächst. Ab einer gewissen Größe werden die langen Triebe an Bambusstäbe gebunden, von wo aus sie in nicht enden wollender Handarbeit Blüte für Blüte in das Gestell gebunden wird. Vereinzelt liegen Ersatz-Blütenstränge aus dem großen Pflanzentopf bereit, falls doch einmal eine Blüte abbricht.
„Zehn Jahre muss man üben, ehe man einen schönen Ozukuri zuwege bringt – so heißt es jedenfalls in Japan“, sagt Richard Sottru. Leppert und er gehören zu den wohl ganz wenigen Menschen in Europa, die diese Kunst beherrschen, vielleicht sind sie auch die Einzigen. „Eine Delegation aus Japan war jedenfalls begeistert von dem Ergebnis“, sagt Sottru und lacht. Rund fünf Arbeitstage verbringen die beiden Ruheständler im Gewächshaus auf dem BGL-Gelände angrenzend an den Stadtpark damit, die einzelnen Blütenstiele in ihren Halterungen zu befestigen. „Man muss es wollen“, meint Sottru vielsagend.
Wenn das Kunstwerk fertiggestellt ist, wird es auf einer Palette per Radlader vorsichtig auf einen Lastwagen gehievt und an seinen gewohnten Platz im Teehäuschen am Urteilsplatz gefahren.
Was passiert, wenn das seltene Kunstwerk beschädigt werden sollte? „Dann gibt es keinen Ozukuri“, sagt Rainer Leppert lapidar und lacht. So wie in den Jahren 2018 und 2019, als ein Pilz der Pflanze zu sehr zugesetzt hatte. „In sehr heißen Jahren kann dies schon einmal passieren“, so Leppert.
Es wird wieder einmalig in Europa sein, wenn der Ozukuri im japanischen Bereich am Urteilsplatz in voller Pracht erstrahlt. „2014 gab es in Versailles zwei Exemplare zu be wundern, die aus dem kaiserlichen Garten in Tokio eingeflogen worden waren“, erinnert sich Sottru. „Sonst wüsste ich von keinem Ozukuri in Europa.“
Wenn die Blütenschau in Lahr vorbei ist, wird der Ozukuri noch eine Weile die Besucher im Musikpavillon im Stadtpark verzaubern. Nach seinem Verblühen erwartet jedoch auch auf ihn ein sehr banales und wenig kaiserliches Ende auf dem Kompost. Sein Nachfolger wartet derweil bereits auf seinen Auftritt im nächsten Jahr.