BZ: Täuscht der Eindruck oder trifft es wirklich zu, dass es offenbar wieder mehr Pop-Künstler gibt, die auch inhaltlich eine Botschaft vermitteln wollen?
Sadovnik: Das ist ein Phänomen der Zeit. Es gibt ja immer noch Menschen, die meinen, junge Leute hätten keine Werte. Dabei ist es vielmehr so, dass bei der jüngeren Künstlergeneration die Message, der eigene Standpunkt viel deutlicher sichtbar wird, als es zum Beispiel in den 1980er-, 1990er-Jahren der Fall war. Heutzutage ist es zumindest ein Stück weit normaler, dass man politisch-gesellschaftlich Kante zeigt und das trotzdem in einen musikalischen Rahmen mit Unterhaltungswert verpackt.
BZ: Anders als in der Woodstock-Zeit, als schon allein die Musik an sich Protest war.
Sadovnik: Dafür sind jetzt die Inhalte, die in Sprache oder Bildern transportiert werden, in ihren Positionen viel entschiedener. In den 1960ern war es mehr das Auftreten an sich.
BZ: Im Mittelpunkt des Festivals steht traditionell der Marktplatz – diesmal mit dem Auftritt von Deep Purple, einer Band aus dieser Zeit.
Sadovnik: Beim Auftritt dieser Band erleben wir lebendige Musikgeschichte. Dieses Konzert schlägt gewissermaßen die Brücke von den damaligen Ansätzen zu heute.
BZ: Eine weitere Zugnummer auf dem Marktplatz ist Wanda. Da denkt man sofort, der neue Burghof-Chef hat diese Band aus seiner Heimat Österreich mitgebracht.
Sadovnik: Wanda gehörte schon zum Programm, bevor ich zum Burghof gekommen bin. Ein schöner Zufall ist, dass ich dann für die noch offenen Programmteile unter anderem Bilderbuch aus Österreich verpflichten konnte. „Bilderbuch“ ist gerade sehr angesagt, während Wanda schon in dem vorher angesprochenen Sinn etabliert ist und einen Unterhaltungswert geschickt mit Kritik oder politischen Statements verknüpft. Bereits der Name Wanda, der sich auf die „wilde Wanda“ bezieht, eine Wiener Kultfigur, die in den 70ern als Wiens einziger weiblicher Zuhälter für viele Schlagzeilen sorgte, ist gewissermaßen auch ein Statement. Geschichten wie diese finden sich im Geist ihrer Musik und machen ihre Texte immer wieder außergewöhnlich.
BZ: Was würden Sie von den Marktplatzkonzerten sonst noch besonders empfehlen?
Sadovnik: Schön wäre es, sich alles anzuhören, um das ganze Spektrum des Marktplatzes zu entdecken – von der Rockgeschichte mit Deep Purple bis zu den zeitgenössischen Ansätzen etwa von Passenger oder Amy Macdonald. Das „Stimmen“- Festival steht für Vielfalt. Bei den unterschiedlichen Konzerten lässt sich auch der Ort immer wieder anders und neu erleben.
BZ: Das Stichwort Vielfalt führt unweigerlich zum Rosenfelspark, der traditionell der Spielort ist, wo Musik aus der ganzen Welt auf die Bühne kommt.
Sadovnik: Auch beim Rosenfelspark war es so, dass ein Großteil des Programms schon geplant war, bevor Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Mit den Konzerten im Rosenfelspark klingt das Festival auf eine sehr schöne Weise aus. Eine besondere Rolle spielt dabei die Atmosphäre. Die Konzerte sollen sich in diese besondere Stimmung einfügen – und kontrastreich auf sie reagieren. Ich finde, ebenso wie beim Marktplatz passt das Programm im Rosenfelspark sehr gut zum Ort. Wir haben einige lateinamerikanische, karibische und afrikanische Einflüsse, die energiegeladene Konzerte versprechen – perfekt für laue Sommerabende. Auch hier ist uns mit Klan und Lina Maly aus Deutschland oder Hugh Coltman ein spannender Kontrast gelungen.
BZ: Im Rosenfelspark schimmert noch immer der frühere Weltmusikschwerpunkt von „Stimmen“ durch und es zeigt sich auch dort, was Sie bereits angesprochen haben: Die beschauliche Parkatmosphäre steht nicht im Widerspruch zur Botschaft, die auch bei diesen Konzerten mitschwingt.
Sadovnik: Das ist das Schöne an der Musik. Sie macht beides möglich: Das Publikum kann sich mit Zeitgeschehen auseinandersetzen und sich trotzdem im Konzert wohl fühlen. Statt der Reibung, die oft aus dem politischen Diskurs entsteht, hat die Beschäftigung mit unterschiedlichen Positionen im Medium Musik in diesem Rahmen fast etwas Feierliches.
BZ: Bei diesem Festival kommt ein neuer Spielort dazu, der Werkraum Schöpflin, der bisher nur Schauplatz für „Stimmen on Tour“ war. Der Werkraum ist bekannt als ein Ort für ambitionierte Programme, die oft auf ungewöhnliche Weise Kunst und Diskurs verbinden. Inwieweit passt das, wofür man den Werkraum kennt, zu dem, was bei „Stimmen“ dort geboten wird?
Sadovnik: Die beiden Konzerte beim Werkraum Schöpflin konnte ich zusammen mit Nadja Stocker noch selbst programmieren. Dabei haben wir wie bei allen Spielorten versucht, mit der Umgebung zu spielen und eine interessante Beziehung zwischen Programm und Ort herzustellen. Ich glaube, das ist uns insofern ganz gut gelungen, als dass die beiden Konzerte an den beiden Tagen einen starken Kontrast bilden. Wir haben einmal mit Cobi einen aufstrebenden amerikanischen Singer/Songwirter, der mit seiner kraftvollen Stimme in der idyllischen Gartenatmosphäre beim Werkraum sicher sehr eindrucksvoll wirken wird. Auf der anderen Seite den Top-Newcomer Lie Ning aus Berlin, der elektronische Beats und souligen Pop in seiner Musik verbindet und mit seinen Botschaften für die LGBTQ-Szene eine aktuelle und relevante Stimme der deutschen Musikszene ist.
BZ: Auch der Domplatz in Arlesheim ist ein besonderer Ort. Wie passen dort die Auftritte von Bilderbuch und Gay Su Akyol ins Setting?
Sadovnik: Für mich persönlich sind all diese Spielorte auch deswegen so interessant, weil ich sie im Gegensatz zu den meisten Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, und im Gegensatz zum Publikum gar nicht kenne. Ich sehe einerseits die Herausforderung, an das anzuknüpfen, was bisher war. Aber spannend ist auch, meine noch vorhandene Außenperspektive einzubringen und die Orte vielleicht etwas anders zu programmieren. Arlesheim ist für mich einerseits ein unbeschriebenes Blatt, andererseits sehe ich auch den wunderschönen, kleinstädtischen Rahmen – den ich zu den oriental post-punk Facetten bei Gaye Su Akyol in Beziehung setze, deren Konzert auch visuell ein Erlebnis sein wird. Am Tag darauf folgt mit Bilderbuch eine aktuelle Popkultur-Formation, die mit einer großen Produktion kommen wird. Beide Konzerte lassen den Ort jeweils in einem anderen Licht erscheinen. Deswegen würde ich wie beim Marktplatz empfehlen, wenn es geht, beide Abende zu erleben – einfach um den Ort mit zwei völlig unterschiedlichen Konzerten auf völlig unterschiedliche Weise zu erleben und vor allem großartige Künstlerinnen und Künstler unserer Zeit zu erleben.
BZ: Arlesheim hat als Ort auch deswegen eine besondere Bedeutung, weil es bei diesem Festival sonst kein Gastspiel außerhalb von Lörrach gibt – sieht man einmal von „Stimmen on Tour“ ab. Welchen Stellenwert räumen Sie den „Stimmen“- Spielorten im trinationalen Raum ein?
Sadovnik: Aus „Stimmen“-Perspektive sind die Konzerte in der Region unverzichtbar. Für mich als neuer Intendant ist es faszinierend, dass ich mit dem „Stimmen“-Festival einen Bogen spannen kann, der die ganze Dreiländerregion einschließt. Das „Stimmen“-Festival an sich hat schon die Absicht, Vielfalt abzubilden und Grenzen zu überbrücken. Das ist, was ich auch in Zukunft beibehalten möchte. Dementsprechend wichtig ist es, dass wir künftig wieder in Frankreich sein werden und in der Schweiz präsent bleiben. Das gilt nicht nur für Arlesheim, sondern auch für Riehen und Binningen. Solche Orte eröffnen ganz neue Dimensionen für das Festival. Die Region wird dadurch in Beziehung gesetzt zu einem internationalen Kunstgeschehen, ohne den eigenen Charakter zu verlieren. Im Gegenteil: Der trinationale Charakter der Region wird dadurch unterstrichen.
BZ: Vielfalt gehört zum Markenkern von „Stimmen“, früher umschrieben mit dem Spruch, die Stimme in ihrer ganzen Bandbreite abbilden zu wollen. Damit sind wir auch bei den Übergängen in Richtung Klassik und Kirchenkonzerte. Wie wichtig sind Ihnen diese Programmteile? Sind sie mehr als eine Reminiszenz an die „Stimmen“-Tradition?
Sadovnik: Genauso unverzichtbar, wie es ist, die ganze Region zu bespielen, ist es unverzichtbar, alle Genres in das Festival einzubinden. Es geht nicht um „Hauptsache viel“ oder um „Hauptsache bunt“, sondern darum, Orte so zu bespielen, dass besondere Erlebnisse möglich werden – etwa mit Klassik in Kirchenräumen. Das bietet die Chance, mit Musik aus der Vergangenheit einen Fuß in die Tür der Gegenwart zu setzen. Idealerweise verpflichten wir Formationen, die Grenzen der Genres überspringen. Das in diesen ungewöhnlichen Räumen wahrzunehmen, macht irrsinnig Spaß.
ZUR PERSON:
Timo Sadovnik (40) leitet seit März die Burghof GmbH. In dieser Funktion ist er auch künstlerischer Leiter des „Stimmen“- Festivals. Der Österreicher ist von Haus aus Sozialpädagoge und Kulturmanager. Seine Laufbahn startete er in Graz am Forum Stadtpark. In den letzten Jahren hat er häufig an Schnittstellen von Kunst und Kultur sowie sozialen oder bildungspolitischen Projekten gearbeitet.