Die Verkürzung auf der Wortebene, etwa durch verschliffene Endungen und Zusammenziehungen, hat sicher zum falschen Vorurteil beigetragen, der Alemanne sei „muulfuul“. Immerhin erlaubt die Verkürzung beim poetischen Schreiben und Sprechen viel mehr an Sinn in ein vorgegebenes Versmaß oder eine äußere Form zu geben, als in der Standardsprache.
Das, was Menschen, die das Alemannische zum ersten Mal hören, allerdings am meisten auffällt, ist die Musikalität der Sprache. Wir singen unsere Sprache, wobei die schweizerdeutschen Varianten des Alemannischen dies meist noch stärker in sich haben als unsere südbadischen. Wir gehen mit der Stimmhöhe auf und ab, setzen eine Sprachmelodie, während die norddeutsch geprägte Standardsprache sich bei fast gleichbleibender Tonhöhe eher auf eine Rhythmisierung stützt. Es scheint, dass gerade der Wechsel der Tonhöhen Gefühle stark ausdrücken und damit auch ansprechen kann. Da nähert sich das Alemannische den romanischen Sprachen im Süden an. Dazu kommt ein eigenes Konsonantensystem und vor allem ein unglaublicher Vokalreichtum, das Klangvielfalt und Melodik unterstützt.
Dadurch, dass vor allem im Anlaut die „harten“ Konsonanten p und t zu b und d abgeschwächt werden, entsteht eine gefühlte Sanftheit der Sprache. Und dadurch, dass, entgegen der genormten Standardsprache, eine unglaubliche Varietät an Vokalen existiert, etwa beimi, o und u, wo sowohl offene als auch geschlossene Lang- und Kurzvarianten, samt lokaler Zwischenfärbungen, möglich sind, klingt das Sprechen manchmal wie nach einer Partitur gesungen. „Doobe n uf em Bode“ hat zwei unterschiedliche o-Laute, „droben auf dem Boden“ nicht. Die unterschiedlichen i-Laute zu hören in dem Satz, „e Schwizer schwitzt, aber nit jede Schwitzer isch au e Schwizer (ein Schweizer schwitzt ...)“ oder sie sogar richtig auszusprechen, gelingt nur wenigen Zugezogenen, genauso wie das abgeschliffene i am Ende von Verkleinerungsformen wie „Dörfli“ oder „Maidli“. Auch diese Formen übrigens können als typische Sympathieträger unserer Sprache angesehen werden, wobei für unseren „Sprachgeschmack“ die schwäbische Variante unseres Alemannischen leicht übertreibt: „Sodele, jetz isch s Häusle gsäuberlet“. Und noch einmal ein Klangbeispiel, das zeigt, wie melodiös das Alemannische ist, wie es ins Ohr geht, sich einschmeichelt, anheimelt. In einem Gedicht von mir heißt es „chügelibüüchli um unser chind“, die Übersetzung wäre „kügelchenbäuchlein um unser kind“. Ein kleiner, aber wesentlicher Klangunterschied.
Auch die Bildersprache von Sprichwörtern und Vergleichen, wie sie konkret im Dialekt Abstraktes versinnbildlichen, macht den Reiz unserer Sprache aus. Hier nur wenige Beispiele aus Bruno Schäubles „Wäärerdütsch“. Und man beachte dabei auch den Klang der Sprache! „En junge Grochzer gitt en alte Bäärzer“, ein junger Krächzer ergibt einen alten Jammerstöhner. „S git Mechaniker un Machhiniger“ (Kaputtmacher). „Numme nit luck lo“, dranbleiben!
Wer der Poesie des Alemannischen nicht schon verfallen ist, sondern ihr erst noch auf die Spur kommen will, der höre den Menschen, die hier in der Gegend von Kind auf daheim sind, beim Sprechen zu. Und gesteigertes Vergnügen wird derjenige bei Dichterlesungen erhalten können, beim „Zueloose“ und sich Mitfreuen am symphonischen Klang unserer Sprache. Vielleicht wird einem dann der erhaltenswerte Reichtum des Alemannischen erneut deutlich. Inzwischen können wir nämlich alles: vor allem Hochdeutsch, aber auch noch Alemannisch. Wenn wir wollen. Markus Manfred Jung
Markus Manfred Jung (67) war bis 2018 Gymnasiallehrer in Schopfheim. Er ist Autor von Gedicht- und Prosabänden, Hörspielen und Theaterstücken.